UNGLÜCKSWELLE

Aufregung in Russland: Selbstmordserie unter Teenagern ruft Präsident Medwedjew auf den Plan

Was trägt sich da bloß in den russischen Kinderzimmern zu? Das Land wird derzeit von einer regelrechten Selbstmord-Welle erschüttert. Die Jugendlichen ahmen sich gegenseitig nach. Jetzt schaltete sich Präsident Dmitri A. Medwedjew ein. Die Medien, so warnte er, sollen das Thema nicht zu sehr pushen. Um nicht noch mehr Tote zu provozieren.

Halt- und ziellos wächst die russische Jugend ohne Strukturen und Sicherheiten auf. (Foto: MR TMRW/flick)

Halt- und ziellos wächst die russische Jugend ohne Strukturen und Sicherheiten auf. (Foto: MR TMRW/flick)

“Es ist in der Tat sehr beunruhigend und ernst, aber es bedeutet nicht, dass es sich um einen Schneeball handelt, der jedes Jahr größer und größer wird”, fasst Medwedjew die derzeitige Situation zusammen. “Das Ganze muss extrem vorsichtig behandelt werden.”

Angefangen hatte die Serie an Selbstmorden im vergangenen Februar. Damals, so berichtet die “New York Times”, sprangen zwei 14-jährige Mädchen Hand in Hand vom Dach eines 16-stöckigen Wohnkomplexes in einem Vorort von Moskau. Danach brach eine regelrechte Serie los, die die russische Öffentlichkeit seitdem in Atem hält. So kam es am 9. April binnen 24 Stunden zu insgesamt sechs Todesfällen. Eine 16-Jährige sprang von einem im Bau befindlichen Krankenhaus in Sibirien, während sich fünf andere Teenager erhängten: ein 15-jähriger Junge starb in Perm, zwei Tage, nachdem ihn seine Mutter entdeckt hatte. Ein Gleichaltriger brachte sich in Nizhny Novgorod, einer Stadt an der Wolga, ausgerechnet an seinem Geburtstag um. Die anderen kamen aus der nördlichen Stadt Lomonossow und aus Samara, darunter auch ein in Krasnoyarsk unter Mordverdacht inhaftierter 16-Jähriger, der sein Gefängnisbettlaken nutzte, um sich selbst zu erhängen. Doch dem nicht genug: Allein in der vergangenen Woche gab es mindestens zehn weitere Todesfälle zu beklagen. Darunter auch ein erst elfjähriger Junge, der sich auf dem Dachboden des Elternhauses in Krasnodar erhängte.

Russischen Jugendlichen fehlen soziale Strukturen

Während mit wachsendem Wohlstand in Russland die Selbstmordrate unter Erwachsenen zurückgegangen ist, ist die Selbstmordrate unter russischen Teenagern dreimal höher als im globalen Durchschnitt. Dafür verantwortlich machen Experten vor allem Alkoholsucht, der Zerfall der Familien und andere Auswirkungen, die mit dem Zerfall der Sowjetunion einhergehen. Daneben spiele aber auch die psychische Gesundheit und das soziale Umfeld der jungen Leute eine wesentliche Rolle. Mit der Entscheidung des Präsidenten, der eine Zurückhaltung der Medien fordert, gehen sie überein. Die weitere Verbreitung – auch in den Sozialen Netzwerken – könnte weitere Nachahmer auf den Plan rufen.

Erste Medien hat Medwedjew bereits auf seiner Seite. So kritisierte das St. Petersburger Blatt “Smena” in dieser Woche, die massive Aufmerksamkeit, die diesem furchtbaren Phänomen beigemessen werde. Während sich die Erwachsenen auf den Beerdigungen die Hände schüttelten und einige andere versuchten, hinter die Motive der Kinder zu gelangen, so die Zeitung, hätten einige Jugendliche die Taten zum Vorbild genommen.

Nach einem Bericht des Kinderhilfswerks der Vereinten Nationen, der im vergangenen Jahr veröffentlicht wurde, rangiert Russland mit seinen 143 Millionen Einwohnern weltweit auf Platz drei, was die Pro-Kopf-Rate an  Teenager-Selbstmorden angeht. Ganz oben auf der Liste stünden Kasachstan und Weißrussland. Weltweit begingen jedes Jahr durchschnittlich sieben von 100.000 Teenagern Selbstmord. In Russland sind es 22 von 100.000. In den Regionen Tuva und Tschukotka sind es sogar über 100. Jedes Jahr, so fasst der Bericht zusammen, würden sich 1,700 russische Teenager zwischen 15 und 19 Jahren das Leben nehmen.

Facebook dicht machen – das ist ein fataler Irrglaube

Theoretisch hat Russland das Problem bereits erkannt. Per Gesetz ist jede Schule im Land dazu verpflichtet, mindestens einen Psychologen zu beschäftigen. Darüber hinaus gibt es ein nationales Krisentelefon, das Menschen anrufen können, wenn sie sich mit derlei Absichten quälen. Doch der Erfolg ist trotz all dieser Maßnahmen äußerst gering, zumal auf Bundesebene die Anstrengungen in dieser Hinsicht nur sehr spärlich ausfielen. Die Situation ist weiterhin katastrophal. Auch der Druck, der von Seiten des Gesetzgebers auf das russische Soziale Netzwerk “Vkontakte” ausgeübt wurde, scheint kaum zu fruchten. Dort wurden entsprechende Gruppen gelöscht, in denen Anleitungen zum Selbstmord kursierten und auch die staatlichen Medien zeigen sich mit der Auswahl ihrer Illustrationen wesentlich sensibler.

Doch das Problem, da sind sich die Experten ebenfalls einig, geht tiefer. Einfach Facebook dicht machen und alles ist in Ordnung – das sei ein fataler Irrglaube. Was fehle, seien soziale Strukturen, wie sie zu Sowjetzeiten etwa durch Organisationen wie die Jungpioniere gegeben worden wären. Abgesehen davon wären Eltern und Lehrer zu oft überfordert, wenn Jugendliche Selbstmordgedanken äußern würden. Nicht wenige deuteten dies als Manipulationsversuch und eben nicht als Hilferuf.

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