KOMMENTAR

Ein Bär im Winterschlaf: Die Zivilgesellschaft in Russland wacht auf

Es ist kein Geheimnis, dass Russland keine echte Demokratie ist, sondern ein Staat, der durch das autoritäre Regime von Wladimir Putin und seinen „Stabilitätskurs“ gelenkt wird. Viele russische Gesetze, auch die Mediengesetze und die Verfassung, enthalten Vorschriften für die Einhaltung von Menschen- und Bürgerrechten – auf dem Papier.

Der Staat hat in vielen Belangen versagt: Russlands Internetuser nehmen die Sache selbst in die Hand. (Foto:  jared/flickr)

Der Staat hat in vielen Belangen versagt: Russlands Internetuser nehmen die Sache selbst in die Hand. (Foto: jared/flickr)

Das Problem ist, dass die Einhaltung dieser Gesetze nicht überwacht wird. Und es herrscht auch keine wirkliche Gewaltenteilung in Russland. Ein gutes Beispiel dafür ist das Justizsystem: In bestimmten politischen Fällen basieren die Gerichtsurteile nicht auf Rechtsstaatlichkeit, sondern auf den Befehlen des Kremls oder der örtlichen Behörden. Und die meisten dieser Prozesse enden mit Schuldsprüchen.

Daher habe ich Zweifel, dass sich Russland im Hinblick auf die Regierungsführung und die politischen Prozesse auf einem guten Weg einer nachhaltigen Entwicklung befindet. Das bestätigt auch eine neue Studie der Bertelsmann-Stiftung zu den BRICS-Staaten, den Emerging Players Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika. Die Studie, die von dem Forschungsprojekt Sustainable Governance Indicators (SGI) vorgelegt wurde, betont, dass „Russland eine ‚äußere Schale’ demokratischer Institutionen aufgebaut hat, aber versagt hat, diese mit Inhalt zu füllen, denn die Situation des politischen Pluralismus und der politischen Auseinandersetzungen hat sich in den letzten Jahren verschlechtert“. Als Hauptmängel nennt die Studie unter anderem schwach ausgeprägte Strafverfolgungsmechanismen, ein sinkendes Bildungsniveau und wachsende Korruption. Dem kann ich nur zustimmen.

Auch für ausländische Investitionen in Russland stellen diese und andere Probleme ein großes Hindernis dar. Aber das, denke ich, überrascht niemanden mehr. Von Russland wird nichts anderes erwartet.

Cyberaktivimus: Russische Zivilgesellschaft wird stärker

Obwohl diese Situation ziemlich deprimierend sein kann, gibt es dennoch Grund zur Hoffnung: Es scheint, dass die russische Zivilgesellschaft schließlich erwacht und etwas unternimmt. Ich bin ein Cyber-Optimist und glaube daran, dass die Zivilgesellschaft in Russland durch die neuen Technologien und das Internet wächst und stärker wird.

Weil sich die Regierung um viele Dinge nicht kümmert, tun es heute oft die Bürger. Sie bieten dort Lösungen an, wo der Staat versagt. Beispielsweise schenkt die russische Regierung dem Umweltschutz kaum Beachtung und fördert wenig die Umsetzung umweltfreundlicher Maßnahmen. Auch die SGI-Studie bestätigt, dass „die [russische] Umweltpolitik weitgehend versagt, die Nachhaltigkeit der natürlichen Ressourcen und die Umwelt zu schützen und zu erhalten.“

Die neuen, erstarkenden zivilen Kräfte in Russland schaffen es oft, die Lage auf der Mikroebene zu verbessern. Blogger Against Litter [rus] beispielsweise ist eine Initiative, die Blogger im ganzen Land zusammenbringt, um öffentliche Orte sauber zu halten. Und als 2011 die großen Waldbrände ausbrachen, schlossen sich die Menschen wieder zusammen. Während der Staat unfähig schien, die Katastrophe zu stoppen, schufen Aktivisten eine „Help-Map“ (http://russian-fires.ru/), welche die Menschen mobilisierte und ihnen den direkten Weg zu den Orten zeigte, wo Hilfe benötigt wurde. Das war eines der ersten Beispiele für eine erfolgreiche Bürgermobilisierung in Russland.

Ein ähnliches Szenario ergab sich im Juli dieses Jahres, als es in Krymsk am Schwarzen Meer zu verheerenden Überflutungen kam. Wieder waren die russischen Behörden unfähig schnell auf Warnung über die Katastrophe zu reagieren, die Menschen zu retten und ihnen zu helfen. Tausende Freiwillige taten genau das. Sie schlossen sich zusammen, sammelten Nothilfe und brachten sie nach Krymsk. Aber die russischen Behörden sehen solchen Enthusiasmus ungern und so erließ das Parlament jüngst ein Gesetz, das den Freiwilligendienst erheblich einschränkt.

Eine gespaltene Gesellschaft

Darüber hinaus scheint es, dass der Kreml versucht, die russische Gesellschaft entlang religiöser, sozioökonomischer und ethnischer Linien weiter zu spalten: Die Orthodoxen Christen werden gegen die Generation iPad, die örtliche Bevölkerung gegen die Migranten und die Liberalen gegeneinander positioniert. Der jüngste Prozess gegen die Sängerinnen der Punkband Pussy Riot zeigt, wie die Gesellschaft entlang religiöser Linien polarisiert ist. Die Menschen interessieren sich mehr dafür, sich gegenseitig bloßzustellen, als sich gegen eine unfaire und korrupte Regierung zu verbünden.

Die Mehrheit der erwachsenen Bevölkerung in Russland nutzt das Internet täglich; und auch die Älteren werden in diese Prozesse langsam mithineingezogen. Diese Menschen haben vor langer Zeit aufgehört, Fernsehen zu schauen. Sie holen sich ihre Informationen aus dem Netz. Während die ältere Generation in den kleinen Städten und auf dem Land weiterhin für Putin und seinen Stabilitätskurs stimmt, versuchen die oppositionellen Schichten der Gesellschaft, die korrupte Natur des Regimes aufzuzeigen.

Die BRICS-Studie von SGI entwirft zwei mögliche Zukunftsszenarien für Russland: ein gutes und ein schlechtes. Es ist offensichtlich, dass die russischen Behörden nicht flexibel sind und auf Forderungen der Gesellschaft nicht reagieren. Warum sollte sich daran jetzt etwas ändern? Sowohl Putin als auch der derzeitige Premierminister Dimitri Medwedew betrachten die Korruption als die gefährlichste Gefahr für die Staatsmaschinerie, aber fast nichts ist bisher dagegen unternommen worden. Die russischen Behörden tun das, was sie immer getan haben. Sie ziehen die Daumenschrauben immer weiter an, bis das Land irgendwann explodiert. Die russische Gesellschaft erinnert mich an einen Bär im Winterschlaf: Er kann Misshandlungen lange Zeit erdulden, aber ab einem gewissen Punkt wird er sehr wütend. Und dann ist das Maß voll.

Aus dem Englischen von Rosa Gosch

Der Beitrag ist in Zusammenarbeit mit Kollegen des Projektes FutureChallenges entstanden. Für dieses bloggt die Autorin Masha Egupova (http://futurechallenges.org/author/masha-egupova/).

Weitere Infos hier: http://news.sgi-network.org/news/details/1210/brics-video/

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