GESELLSCHAFT

Der russische Alptraum: Tausende Frauen sterben jedes Jahr an häuslicher Gewalt

Sie durchleben Unvorstellbares. Tausende von ihnen, so zumindest die offiziellen Schätzungen, sterben jedes Jahr daran. Häusliche Gewalt ist auch in Russland noch immer ein Tabuthema. Nach wie vor werden die Taten dort nicht als Verbrechen anerkannt. Ein Umstand, der vor allem die Hilfe für ihre Opfer ungeheuer schwer macht.

Oftmals sind die Opfer häuslicher Gewalt in einem Kreislauf gefangen, dem sie allein nicht entfliehen können. (Foto: ghetto_guera29/flickr)

Es sind Geschichten, wie die von Anya, die sich nicht nur in Russland tausendfach zutragen. Die junge Frau lebt in einem spärlich ausgestatteten kleinen Zimmer. Ihre zwei vier und sieben Jahre alten Jungen zieht sie allein groß.

Ihre Unterkunft ist nur vorübergehend. Sie lebt in einem Heim für Opfer häuslicher Gewalt. Ihre Geschichte, so schreibt die BBC, sei typisch. Sieben Jahre lang war Anya verheiratet. In dieser Zeit sei sie regelmäßig geschlagen oder verbal misshandelt worden. Ihr Leben bestand aus ständiger Angst.

Wo Hilfe suchen oder gar finden? Als sie endlich den Mut fasste und doch zur Polizei ging, erlebte sie einen bitteren Schlag. Die Beamten teilten ihr schlicht mit, dass man wenig gegen ihren Ehemann unternehmen könne, da das Ganze “zu hause” passiert sei.

Es geschah zu hause: Beamte können nicht einschreiten

“Es war ein Albtraum, aber ein stiller”, fasst sie ihre damalige Situation heute zusammen. Verschärft dieser durch die beiden kleinen Kinder. Sie allein zu lassen, hätte sie nicht gewagt. Einfach mal ins Krankenhaus gehen und die eigenen Verletzungen versorgen lassen – unmöglich. Sie wartete ab. Die Kinder wuchsen und schließlich konnte sie sich sicher sein, dass sie auch vor der Polizei als Zeugen für sie aussagen konnten. Gleichzeitig begann sie das grauenhafte geschehen zu hause aufzuzeichnen und so Beweise zu sichern. Genützt, so fährt sie fort, habe ihr das alles gar nichts. Die Polizei habe damit nichts zu tun haben wollen. Einmal meinte eine Beamtin sogar zu ihr, warum sie denn nicht weglaufen würde, so wie sie es selbst getan hätte.

Vor zwei Jahren ließ sich die zweifache Mutter schließlich scheiden. Doch weil sie sich allein keine Wohnung leisten konnte, ging die Hölle auf Erden in der gemeinsamen Wohnung weiter. Die letzten Schläge prasselten Mitte Januar dieses Jahres auf sie ein. “Ich kam mit meinen Kindern zurück von einer Zirkusvorstellung. Ich war ziemlich müde. Doch er ließ mich nicht schlafen. Ich bat ihn aufzuhören. Da begann er auf mich einzuschlagen.”

Jeden Tag sterben 40 misshandelte Frauen

Ihre jetztige 35-Zimmer-Unterkunft am Rand von Moskau ist für sie und viele andere Frauen, die sich in der gleichen Situation befinden, die einzige Option. Doch niemand in Russland weiß genau, wie viele Frauen tatsächlich derartige Hilfe benötigen. Obschon die Debatte über das Thema häusliche Gewalt bereits seit zwei Jahrzehnten anhält, so das Medium, sei häusliche Gewalt nach wie vor nicht als Verbrechen eingestuft und es gebe keine nationale Statistiken. Schätzungen zufolge, die auf Studien in einzelnen Regionen beruhen und vom russischen Innenministerium durchgeführt werden,  erleiden Jahr für Jahr rund 600,000 Frauen in Russland häusliche Gewalt. 14.000 von ihnen sterben an den Verletzungen, die ihnen von ihren Ehemännern und Partnern beigebracht wurden. Das sind gut 40 Opfer Tag für Tag. Doch diese werden im Stich gelassen. Selbst eine Millionenstadt wie Moskau gebe es nur ein staatlich finanziertes Frauenhaus.

Dabei scheinen die Kapazitäten noch nicht einmal das größte Problem zu sein. Viel schwerer wiege die Verwirrung und Mangel an Informationen bei den betroffenen Frauen. Ohnehin sei ihnen nur ein Aufenthalt von zwei Monaten in den Einrichtungen gestattet. Aus der Krise, der sie entflohen sind, müssen sie sich selbst helfen und sich nicht selten obendrein mit schwierigen juristischen Fragen auseinandersetzen. Zwar steht das Personal hier unterstützend zur Seite. Die Philosophie ist jedoch so einfach wie hart: Für ihre Zukunft sind die Frauen ganz allein verantwortlich.

Klägerin muss Misshandlungen auch noch nachweisen

Doch es sind nicht nur die Polizei und das Personal der Frauenhäuser, die es den weniger resoluten Frauen schwer machen. Auch das russische Gesetz ist in dieser Hinsicht geradezu dramatisch. Das sehen, so die BBC abschließend, übrigens auch Menschenrechtsaktivisten so. Denn nach  russischem Recht ist es an der Klägerin zu beweisen, dass sie tatsächlich missbraucht wurde. Strafverfahren wegen Körperverletzungen würden oftmals erst eingeleitet, wenn es bereits zu spät und die Frau nicht selten tot sei. Alarmiert sieht sich darüber offenbar auch nicht die russische Politik: Nach mehr als einem Jahrzehnt der Diskussion ist der Gesetzentwurf über häusliche Gewalt immer noch nicht im Parlament eingebracht.

Kommentare

Schreibe den ersten Kommentar für diesen Artikel.

Hinterlasse eine Antwort

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind markiert *

*