In der Türkei lebend derzeit rund eine Million Menschen aus Russland und der ehemaligen Sowjetunion. Sie beobachten die seit Ende Mai andauernden Proteste, die sich vom Istanbuler Gezi Park ins ganze Land verstreut haben, sowohl mit Sorge als auch mit Begeisterung. Unter ihnen gibt es Migranten wie zum Beispiel die 45-jährige Sophia Khadzhibekirova, die, wie viele andere türkische Frauen, die Proteste vom heimischen Balkon aus durch lautes Schlagen auf ihre Töpfe begleitet. Oder aber Oksana Lukyanenko, die mittlerweile sogar täglich an den Demonstrationen teilnimmt. Auf der anderen Seite leben in der Bosporus-Metropole aber auch Russen wie die erst 23 Jahre alte Inessa Khadzhibekirova. Sie ist eine von vielen, die derzeit ernsthaft darüber nachdenkt, in ihre Heimat zurückzukehren.
Russische Migranten helfen türkischen Demonstranten
Sophia Khadzhibekirova, so berichtet die Zeitung Russia Beyond The Headlines, sei vor etwa 15 Jahren aus Jessentuki nach Istanbul gekommen. Die Russin, die in einem Reisebüro arbeitet, ist mit einem Türken verheiratet. Gemeinsam hat das Paar Tochter Yasya. Für das, was derzeit von Seiten der türkischen Regierung geschieht, hat sie kein Verständnis: „[Der türkische Ministerpräsident Recep Tayyip] Erdogan tut, was er will. Er denkt zu sehr an sich und will nicht hören, was die Leute zu sagen haben.“ Die jetzt zum Ausbruch kommende Unzufriedenheit hat sich ihrer Meinung nach seit langem aufgebaut. Ihr selbst fielen besonders die Bemerkungen des türkischen Premiers zu Frauenthemen, wie etwa dem Kopftuch, negativ auf. Dennoch liebe sie die Türkei sehr. Sie sei ein säkulares, „europäisiertes Land“. „Ich möchte, dass das so bleibt. (…) Ich möchte hier nicht weg.“
Oksana Lukyanenko ergeht es ähnlich. Die Angestellte einer renommierten internationalen Firma, lebt nun bereits seit fast sechs Jahren in der Türkei. Gemeinsam mit ihrem gesamten Büro zieht sie mittlerweile jeden Abend los, um an Protestaktionen teilzunehmen. „Ich lebe mit meinem Freund im Stadtzentrum. Ende der vergangenen Woche konnten wir wegen des starken Gasgeruches nicht einmal das Fenster öffnen“, lässt sie Protestszenen Revue passieren. Schließlich hätten sie ihre Türen geöffnet und die Verletzten in der eigenen Wohnung versorgt.
Anhaltende Unruhen: Angst vor einem drohenden Bürgerkrieg
Ganz anders empfindet die 23-jährige Inessa Khadzhibekirova, die älteste Tochter von Sophia Khadzhibekirova, die Situation. Die junge Frau kam einst mit ihrer Mutter in die Türkei, hat an einer türkischen Universität studiert und es bereits zu einem gewissen Lebensstandard gebracht. Auch sie ist einige Male auf dem Taksim Platz gegangen. Mittlerweile, so berichtet das Blatt weiter, denke sie allerdings ernsthaft darüber nach, wieder nach Russland, in ihre Heimat Jessentuki zurückzukehren, wo sie noch immer Familie und Freunde habe. Groß ist die Angst der jungen Frau vor einem drohenden Bürgerkrieg. Die Gesellschaft, so ihr Eindruck, sei gespalten. Die Regierung wolle den Menschen nicht zuhören. Von Zugeständnissen ganz zu schweigen. „Das finde ich sehr enttäuschend“, so Inessa.
Auch im fernen Russland ist die Sorge um Angehörige in der Türkei derzeit groß, berichtet etwa Nargiza aus Turkmenistan, die ebenfalls seit neun Jahren hier lebt. In der Gegend, in der sie lebe, sei es ruhig. Doch in den TV-Nachrichten sehe sie, wie die Polizei Tränengas gegen die Bürger einsetze. Schon jetzt, berichtet die Geschäftsfrau, hätten sich einige große Lieferanten geweigert, in die Türkei zu kommen. Die Folge: Sie kämpfe bereits mit 20 Prozent Umsatzeinbußen. So offen wie diese Frauen, so das Blatt weiter, würden aber nicht alle sprechen. Auch in Nargizas Laden gäbe es viele, die den türkischen Premier unterstützen würden. Nur drei wären hingegen auf der Seite der Demonstranten. Viele würden schweigen, weil sie später keinen Ärger bekommen wollen.
Russische Touristen kommen nach wie vor in die Türkei
Nach Angaben der türkischen Behörden konzentrierten sich die russischen Gemeinden derzeit auf Istanbul (18.000), Antalya (rund 10.000) und Ankara (5000). Der Rest der russischen Migranten verteilt sich über Hunderte weitere türkische Städte. Vor allem der Istanbuler Stadtteil Lâleli im Zentrum der Metropole, ist vielen als „Klein-Russland“ bekannt. Für die meisten russische Einwanderer ist dieses Gebiet, in dem sich alles um Textil und Mode dreht, die erste Anlaufstelle, um Arbeit zu finden. Zudem kommen jährlich rund 3,5 Millionen russische Touristen ins Land. Nach Angaben türkischer Reiseveranstalter gäbe es bei den Russen in Anbetracht der Unruhen noch keinen Einbruch. Bei den europäischen Urlaubern sehe das bereits ganz anders aus. Auch einige Kreuzfahrtschiffe würden mittlerweile fernbleiben.
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